
Verlassen zu werden trifft uns tief ! Plötzlich ist da diese leise – oder sehr laute – Stimme im Kopf, die fragt: Was habe ich falsch gemacht? Bin ich nicht genug?
Solche Selbstzweifel nach einer Trennung sind kein seltenes Phänomen. Viele Menschen, die verlassen wurden, stürzen in einen inneren Konflikt, der weit über Liebeskummer hinausgeht. Denn wenn eine Beziehung endet, beginnen wir oft, uns selbst infrage zu stellen.
Der Selbstwert gerät ins Wanken. War ich zu anstrengend? Zu bedürftig? Nicht attraktiv oder klug genug? Diese Fragen kommen nicht aus dem Nichts. Häufig sind sie eng mit alten inneren Mustern verknüpft – mit dem Gefühl, nicht liebenswert zu sein, das viele schon seit ihrer Kindheit begleitet.
In diesem Artikel erfährst du, warum Trennungen so oft Selbstzweifel auslösen, wie dein innerer Kritiker damit zusammenhängt – und wie du nach der Trennung Schritt für Schritt deinen Selbstwert wieder aufbauen kannst.
der Schmerz der Trennung spiegelt sich im Selbstbild
Paula, Mitte dreißig, erlebt genau das. Nach dem Ende einer langjährigen Beziehung fühlt sie sich wie ein Schatten ihrer selbst. Sie grübelt, sucht Fehler bei sich und findet sie überall: in ihrem Verhalten, ihrem Aussehen, ihrer vermeintlichen Unfähigkeit, Beziehungen zu führen. Und es ist nicht das erste Mal, dass sie sich so fühlte. Schon als Kind hatte sie das Gefühl, nicht gesehen und nicht wirklich angenommen zu werden. Ihre Mutter war oft mit sich selbst beschäftigt, der Vater emotional distanziert. Anerkennung bekam sie nur für Leistung, nie einfach für ihr Sein. Diese Erfahrungen haben sich tief in ihr Selbstbild eingegraben.
Der Selbstwert als Fundament – und was passiert, wenn er bröckelt
Die Psychotherapeutin Verena Kast, die sich wie kaum eine andere mit dem Thema Selbstwert beschäftigt hat, beschreibt den Selbstwert als ein zentrales Fundament unserer Persönlichkeit. Für Kast ist der Selbstwert nicht einfach vorhanden oder abwesend, sondern ein dynamisches Konstrukt, das sich im Laufe des Lebens immer wieder verändert – je nachdem, wie wir uns selbst und unsere Beziehungen erleben. Besonders nach einschneidenden Erlebnissen wie einer Trennung wird deutlich, wie stabil oder fragil dieses Fundament ist.
Paula ist nach der Trennung so gekränkt, dass sie nur noch ihre vermeintlichen Defizite spürt. Das ist die innere Stimme, die ihr zuflüstert: „Du hast mal wieder versagt! Du bist halt einfach nicht genug! Du bist einfach unfähig eine gute Beziehung zu führen! Wer sich in dem Moment meldet, ist Paulas innerer Kritiker. Doch wer ist der „Innerer Kritiker“?
Der innere Kritiker – Selbstzweifel nach der Trennung bekommen eine Stimme
Der innere Kritiker ist selten ein neutraler Beobachter – er ist die Stimme der Unsicherheit, die uns immer wieder auf unsere vermeintlichen Schwächen hinweist. Dieser Kritiker entsteht oft früh in unserem Leben, in unserer Kindheit: Wenn wir als Kinder zu wenig emotionale Unterstützung erfahren haben, wenn unsere Bedürfnisse übersehen oder wir gar regelmäßig abgewertet wurden, bildet sich eine tiefe innere Unsicherheit.
Diese Unsicherheit ist oft nicht spürbar – bis sie in Krisenzeiten aktiviert wird. Nach einer Trennung meldet sie sich dann umso stärker: mit harten Selbstzweifeln und bohrenden Fragen wie „War ich überhaupt liebenswert? Habe ich das verdient?“
Das Problem daran ist nicht nur der Schmerz dieser Gedanken. Sie machen es nahezu unmöglich, uns in schwierigen Momenten selbst liebevoll zu begegnen. Der innere Kritiker blockiert unsere Fähigkeit, uns selbst zu trösten.
Paula erlebt genau das. Die Trennung hat sie in eine Spirale aus Selbstvorwürfen und Grübelei gestürzt. Sie fragt sich, ob sie zu viel gefordert hat, zu wenig gegeben hat, zu wenig geliebt hat. In Gesprächen mit Freunden kann sie kaum Trost annehmen – denn tief in sich ist sie überzeugt: „Ich war das Problem.“ Ihr innerer Kritiker ist unerbittlich. Und vertraut. Diese Stimme begleitet sie schon, seit sie denken kann.
Warum der innere Kritiker dich eigentlich schützen will
Der innere Kritiker ist kein Zufall. In vielen Fällen ist er eine verinnerlichte Stimme aus der Vergangenheit – oft von Eltern, Lehrkräften oder anderen prägenden Bezugspersonen. Er entstand ursprünglich mit einer Schutzfunktion: um uns anzupassen, um nicht abgelehnt zu werden, um dazuzugehören. Doch heute steht er uns oft im Weg, vor allem, wenn wir anfangen möchten, uns selbst mit Mitgefühl zu begegnen.
Verena Kast betont, wie wichtig es ist, den inneren Kritiker bewusst wahrzunehmen, seine Herkunft zu verstehen – und ihm nicht mehr blind zu glauben. Denn so mächtig seine Stimme auch erscheinen mag: Sie ist ein Echo vergangener Erfahrungen, nicht die objektive Wahrheit über uns.
Selbstwert als Leistung – Wenn Liebe nie bedingungslos war
Die psychologische Forschung zeigt deutlich: Unser Selbstwert wird maßgeblich durch frühe Bindungserfahrungen geprägt. Kinder, die in liebevoller Sicherheit aufwachsen, lernen: Ich bin wertvoll, so wie ich bin. Wer hingegen erfährt, dass Zuwendung an Bedingungen geknüpft ist, entwickelt häufig ein fragiles Selbstbild.
Auch Paula erinnert sich daran. Sie hat als Kind stets versucht, die Aufmerksamkeit ihrer Mutter durch Leistung und Anpassung zu gewinnen – gute Noten, Hilfsbereitschaft, Unauffälligkeit. Doch das Gefühl, wirklich gesehen zu werden, blieb aus. Nach der Trennung fühlt sie sich wieder wie dieses kleine Mädchen: traurig, verunsichert, voller Zweifel.
Vom Kritiker zum Aufpasser – wie du mit Selbstzweifeln nach der Trennung umgehen kannst
Es hilft, den inneren Kritiker nicht mehr nur als Feind zu sehen, sondern als überängstlichen Aufpasser. Diese innere Instanz meldet sich immer dann, wenn unser Selbstwert bedroht scheint. Ihre Grundannahme: Nur wenn wir uns anpassen, vermeiden wir Schmerz.
In Paulas Fall heißt das: „Sei brav. Stell keine Forderungen. Mach dich klein.“ Das Ziel dieser inneren Stimme ist es, sie zu schützen – aber ihre Mittel sind überzogen, realitätsfern und oft destruktiv. Denn dieses System basiert auf alten Erfahrungen und kann nicht unterscheiden, ob die Strategien aus der Kindheit heute noch hilfreich sind.
Der innere Kritiker funktioniert wie ein Frühwarnsystem, das jedoch zu Überreaktionen neigt. Seine Bewertungen und Schlussfolgerungen sind selten objektiv – aber sie fühlen sich wie unumstößliche Wahrheiten an. Gerade deshalb ist es so wichtig, ihn nicht zum Schweigen zu bringen, sondern ihn zu verstehen. Bildlich kann man sich das so vorstellen: Der innere Kritiker, ist die Stimme des Kindes, das wir einmal waren, allerdings mit einem ängstlichen Tunnelblick. Folglich macht es Sinn, diese unsichere Stimme auch kindlich zu betrachten und zu behandeln, indem man sie ernst nimmt, beruhigt und einen Realitätscheck mit dem erwachsenen Blick macht.
Wenn wir erkennen können, dass hinter seiner Schärfe Angst steckt – und hinter der Angst ein Bedürfnis nach Sicherheit – können wir beginnen, einen mitfühlenden Umgang mit dieser Stimme zu entwickeln. Einen, der unseren Selbstwert nicht länger untergräbt, sondern stärkt.
Selbstzweifel überwinden – die Methode der Werteschublade
Wie überwindet man Selbstzweifel? Mit dieser Frage beschäftigt sich die Freiburger Psychotherapeutin Friederike Potreck. Bei der Bewertung der eigenen Person kommt vieles zusammen: Familie, Freundeskreis, Aussehen, Charaktereigenschaften, Job, Wert, soziales Engagement. Der Selbstwert ist also ein buntes Sammelsurium. Es gibt nicht nur EINEN Selbstwert, sondern viele Selbstwerte.
Für diese Dynamik hat Potreck ein anschauliches Bild gefunden: das Modell der „Selbstwerteschublade“. Sie beschreibt den Selbstwert als eine Art Schublade, in der wir im Laufe unseres Lebens Erfahrungen, Erinnerungen und Zuschreibungen sammeln. Leider neigen viele Menschen dazu, vor allem die negativen Zettel ganz obenauf zu legen: die Erinnerungen an Zurückweisung, Fehler, Missgeschicke. Die vielen positiven Erfahrungen – Lob, Erfolg, liebevolle Begegnungen – verschwinden dagegen oft weiter unten in der Schublade oder werden als Zufall abgetan.
Paula erkennt in der Arbeit mit ihrer Selbstwerteschublade, wie sehr sie sich auf das Negative, auf ihre Selbstzweifel, fokussiert hat. Im Coaching beginnt sie, bewusst nach positiven Dingen zu suchen: Erinnerungen an Momente, in denen sie für jemanden da war, an Komplimente, die sie bekommen hat, an Situationen, in denen sie Herausforderungen gemeistert hat. Anfangs fühlt sich das ungewohnt an, fast peinlich. Doch mit der Zeit merkt sie, wie sich ihr Blick auf sich selbst verändert. Die Schublade füllt sich neu, und die negativen Stimmen verlieren an Macht.
Es ist kein einfacher Prozess ist, die eigene Selbstwerteschublade neu zu sortieren. Gerade nach einer Trennung, wenn der innere Kritiker besonders laut ist, fällt es schwer, die positiven Seiten des eigenen Lebens zu sehen. Doch genau hier liegt der Schlüssel zur Heilung: Wer lernt, die eigenen Stärken, Erfolge und liebenswerten Eigenschaften bewusst wahrzunehmen und ihnen mehr Gewicht zu geben, kann das Fundament des Selbstwertgefühls wieder stärken. Verena Kast sieht in solchen Prozessen eine große Chance zur Selbstentwicklung. Sie beschreibt, wie wichtig es ist, sich den eigenen Selbstzweifeln zu stellen, sie zu erforschen und ihre Ursprünge zu verstehen.
Selbstmitgefühl statt Selbstkritik – Der Schlüssen zu einem stabilen Selbstwert
Für Kast ist der Selbstwert nicht nur eine Frage der Selbstbeurteilung, sondern auch der Selbstannahme. Es geht darum, sich selbst mit allen Stärken und Schwächen zu akzeptieren – und zu lernen, dass der eigene Wert nicht von äußeren Erfolgen oder der Anerkennung anderer abhängt.
Ein zentrales Element auf diesem Weg ist das Selbstmitgefühl. Die amerikanische Psychologin Kristin Neff hat diesen Begriff geprägt und drei Kernaspekte herausgearbeitet: Selbstfreundlichkeit, das Erleben gemeinsamer Menschlichkeit und Achtsamkeit. Für Paula bedeutet das, sich in Momenten der Selbstkritik nicht weiter zu verurteilen, sondern sich selbst mit Freundlichkeit zu begegnen. Sie beginnt zu erkennen, dass sie mit ihren Zweifeln und Schmerzen nicht allein ist, sondern Teil einer menschlichen Erfahrung. Und sie übt, ihre Gedanken und Gefühle wahrzunehmen, ohne sich mit ihnen zu identifizieren.
Das Selbstmitgefühl bildet ein Gegengewicht zum inneren Kritiker. Während der Kritiker uns kleinmacht und lähmt, ermöglicht Selbstmitgefühl Wachstum und Heilung. Es ist die Fähigkeit, sich selbst in schwierigen Zeiten zu trösten und zu unterstützen, statt sich weiter zu verletzen. Für viele Menschen – so auch für Paula – ist das eine völlig neue Erfahrung. Sie lernen, dass sie nicht perfekt sein müssen, um liebenswert zu sein. Sie dürfen Fehler machen, traurig und wütend sein, sich schwach fühlen – und sind trotzdem wertvoll.
Paula beginnt, sich kleine Rituale zu schaffen. Sie nimmt sich regelmäßig Zeit, um ihre Selbstwerteschublade zu pflegen. Sie schreibt auf, was ihr gelungen ist, worauf sie stolz ist, was ihr Freude macht. Sie bittet auch Freunde, ihr zu sagen, was sie an ihr schätzen – und nimmt diese Rückmeldungen ernst, statt sie wie früher abzuwerten. Allmählich entsteht ein neues Selbstbild: eines, das nicht mehr nur von Zweifeln und Kritik geprägt ist, sondern auch von Wertschätzung und Selbstannahme.
Selbstwert und Energie – wie dein Alltag dein Selbstbild beinflusst
Friederike Potreck fiel auf, wie eng der Selbstwert und der Energiehaushalt zusammenhängen. Menschen rutschen vor allem dann immer wieder in die Spirale der Entwertung, wenn sie energetisch erschöpft sind. Sie schlafen zu wenig, arbeiten bis zur Erschöpfung, haben wenig schöne Erlebnisse. Sie empfiehlt deshalb, den Energietank immer wieder zu überprüfen. Ist genug Energie drin oder muss ich etwas nachfüllen? Selbstfürsorge ist also ein entscheidender Baustein, um Selbstzweifel zu überwinden und ein stabiles Selbstwertgefühl zu entwickeln.
Paula schafft sich kleine Rituale, die ihr guttun. Sie trinkt morgens eine Tasse Tee und sortiert dabei ihre Gedanken. Abends nimmt sie sich Zeit, um ein Buch zu lesen oder Musik zu hören. Diese kleinen Auszeiten helfen ihr, Kraft zu tanken und das Selbstwertgefühl zu stärken. Nach und nach spürt Paula, wie sich ihr Leben verändert. Sie ist nicht mehr so streng mit sich, kann sich Fehler eher verzeihen und erlebt Momente, in denen sie sich selbst mit liebevollen Augen sieht.
Selbstwert ist kein starres Konstrukt sondern ein lebendiger Prozess
Die Forschung zeigt, dass Menschen mit einem stabilen Selbstwertgefühl besser mit Trennungen umgehen können. Sie sind in der Lage, ihre Gefühle zu regulieren und sich selbst zu trösten. Menschen mit einem labilen Selbstwertgefühl hingegen neigen dazu, sich selbst die Schuld zu geben und sich in Selbstkritik zu verlieren. Sie suchen die Ursache für das Scheitern der Beziehung bei sich selbst und übersehen dabei oft, dass eine Trennung immer auch mit den Entscheidungen und Bedürfnissen beider Partner zu tun hat.
Die Arbeit am Selbstwert ist ein Prozess, der Zeit und Geduld braucht. Es reicht nicht, sich einmal positive Eigenschaften vor Augen zu führen oder sich ein paar nette Sätze zu sagen. Vielmehr geht es darum, die eigene Selbstwerteschublade immer wieder zu öffnen, neu zu sortieren und sich bewusst zu machen, was alles darin liegt. Es geht darum, alte Glaubenssätze zu hinterfragen und neue, unterstützende Überzeugungen zu entwickeln.
Paula lernt, dass Selbstwert kein starres Konstrukt ist, sondern ein lebendiger Prozess – geprägt von Erfahrungen, Beziehungen und der Bereitschaft, sich selbst immer wieder neu zu begegnen. Die Arbeit von Verena Kast und Friederike Potreck zeigt, dass es möglich ist, den eigenen Selbstwert zu stärken – auch und gerade dann, wenn das Leben uns herausfordert.
Für Paula ist dieser Prozess noch nicht abgeschlossen. Es gibt immer wieder Tage, an denen der innere Kritiker laut wird, an denen die alten Zweifel zurückkehren. Doch sie weiß jetzt, wie sie damit umgehen kann. Sie hat gelernt, sich selbst zuzuhören, sich zu trösten und sich an das zu erinnern, was sie stark macht.
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